Omas Abreißkalender
Heiligabend ohne hässlichen Blumenständer. |
Dass Weihnachten ohne Kinder langweilig ist, ahnt man als Kind noch nicht. Ich kann mich immer noch gut daran erinnern, wie sehr ich mich Heiligabend schon allein darüber gefreut habe, dass in der Stuben-Ecke nicht mehr der hässliche Blumenständer meiner Tante Christel, sondern ein geschmückter Tannenbaum stand.
Fast an jedem Zweig baumelten mit klebrigem Zeug gefüllte Eier und kleine Tafeln aus Schokolade. Daneben hingen bunte Kugeln, über allen Zweigen ruhte Engelshaar, damit ging mein Vater immer besonders verschwenderisch um, weil er den Hang hatte, jedes Jahr den hässlichsten Weihnachtsbaum zu kaufen, was unter Engelshaar kaum noch auffiel. Außerdem gab es noch Lametta. Das baumelte auch nicht schlecht.
Besuch vom Weihnachtsmann bekamen wir nicht. Mein Bruder und ich bewachten vor der Bescherung alle Türen so aufmerksam, dass mein Vater keine Chance hatte, unbemerkt und auch noch verkleidet in die kleine Wohnung zu schlüpfen, die aus drei Zimmern, Küche und Bad bestand. Dort wohnten wir nicht nur mit unseren Eltern, sondern auch noch mit Tante Christel und mit Oma Marie. Auch für einen Wellensittich und einen Hund war noch Platz in der engen Hütte.
Nach dem Essen wurden die Geschenke ausgepackt, meine Oma bekam jedes Jahr einen Abreißkalender. Der wurde auf ein Stück dünnes Holz gesteckt, dem mein Vater mit der Laubsäge die Form eines Pilzes gegeben und bemalt hatte. Meine Oma nahm das Stück Holz von der Wand und befestigte den neuen Adventskalender, sie richtete den Kalender an einem Band aus, das den Kalender hielt. Sie fragte uns danach zwei- oder dreimal: "Hängt er gerade?"
Das überprüfte auch immer sofort der Wellensittich meiner Oma, der sich auf das graue Blechdach des Abreißkalenders setzte und mit seinem Schnabel ein Blatt nach dem anderen weg ratterte. Der Vogel sollte deswegen in seinen Käfig. Omas Wellensittich aber war raffiniert und freiheitsliebend. In seinem Käfig hielt er sich nur auf, um zu fressen oder einen Schnabel voll Wasser zu nehmen.
Der Vogel musste also überlistet werden. Das versuchte mein Vater auch Heiligabend mit frischem Futter und frischem Wasser. Dann versteckte er sich unter dem Tisch, meine Mutter, meine Tante Christel, meine Oma Marie, mein Bruder und ich löschten das Licht. Wir schlossen die Stubentür und warteten im Flur, bis mein Vater rief: "Licht anmachen."
Was wir sahen, war dies: Auf dem Tisch Omas Wellensittich mit einem Kalenderblatt im Schnabel, auf dem eine schwarze 13 stand, mein Vater mit dem Vogelkäfig in der Hand, der folgenden Vorschlag machte: "Wenn Hansi tot ist, kaufen wir einen blauen, die sollen nicht so klug sein wie die grünen."
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